Ina Bosch, Luise Klingler, Tobias Lauer
Projekt zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2018-2019
Podcast-Text
Eine Gewissensfrage
Die Geschichte der Deutschen
Pfadfinderschaft Sankt Georg
in der Region Stuttgart zur
Zeit des Nationalsozialismus
und der Nachkriegszeit
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Podcast-Text
Ich verspreche auf meine Ehre und nach besten Kräften:
Meine Pflicht gegenüber Gott und der Kirche zu erfüllen,
Meinen Mitmenschen jeder Zeit zu helfen,
Dem Pfadfindergesetz zu gehorchen.
– Zwischeneinspieler –
Es gibt sie fast überall – mit mehr als 40 Millionen Kinder und Jugendlichen die zweitgrößte Jugendorganisation überhaupt: Die Pfadfinderbewegung.
Der Einleitungstext war früher das Pfadfinderversprechen, wie es in Deutschland jeder abgelegt hat, der mit dabei sei wollte. Konnten die Pfadfinder auch in ihrer größten Krise das Versprechen einhalten? Was ist während des Nationalsozialismus aus ihnen geworden? Und wie ging es nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Pfadfindern weiter?
Alles beginnt im Jahr 1907 auf Brownsea Island, wo das erste Pfadfinderlager stattfindet. Natürlich dabei war Robert Baden-Powell, der als Begründer der Pfadfinderbewegung gilt. Eigentlich war „BP“, wie er unter Pfadfindern genannt wird, erfolgreicher Offizier in der britischen Kavallerie. Seine Visionen hielt er im Buch „Scouting for Boys“ fest und, wie sich am Titel erkennen lässt, ist ein Pfadfinder zu Beginn automatisch auch ein Junge. Deswegen ist es klar, dass wir durchgehend nur von Jungen und Männern berichten können. Die Koedukation wird in der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg erst 1971 eingeführt.
Diese eben erwähnte Pfadfinderschaft ist der größte Bund in Deutschland und obwohl dieser christlich organisiert ist, stehen die Pfadfinder generell jedem gegenüber offen, unabhängig von Religion und Herkunft. In der DPSG sind auch wir – Luise, Ina und Tobias – Mitglieder und aufgrund dessen legt unser Projekt auf die DPSG im Großraum Stuttgart einen besonderen Fokus.
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Zu Beginn der Dreißigerjahre ist die DPSG noch eine sehr junge Bewegung, wenige Jahre alt. Ein Zeitungsartikel berichet:
Pfadfindern ist Modesache geworden. Wenigstens, wenn man unter Pfadfindern das Umbinden eines Schlipses und das Aufstülpen eines Pfadfinderhuts versteht. Das ist aber elend schade! Baden-Powell, der große Vater der Pfadfinderbewegung würde sehr den Kopf schütteln, wenn er sehen würde wie viele aus dem bloßen Spaß an etwas Äußerlichem und einigem Getue sich zu der Sache bekennen wollten,der er eine so wichtige Aufgabe in der Neugestaltung der Welt von der Jugend her zugedacht hat.
– Zwischeneinspieler –
[Krise]
Doch mit dem politischen Umschwung in Deutschland und der folgenden Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 verschärft sich die Situation stark. Die deutschen Pfadfinder steuern geradewegs auf die größte Krise ihrer Geschichte zu.
Mit der Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel hat die NSDAP eigene
Jugendorganisationen. Bald werden diese zu den einzigen staatlich anerkannten Bünden.
Wenn man nun direkt ein gesamtes Volk indoktrinieren möchte, kommen einem Konkurrenten wie die Pfadfinder natürlich nicht sehr geschickt, erst recht nicht, wenn die politische Gesinnung vieler der Anhänger nicht mit der NS-Ideologie vereinbar ist. Deswegen werden nach und nach Organisationen lahmgelegt, sodass zu Höchstzeiten 98% der deutschen Jugendlichen in den NSDAP-Verbänden eingebunden sind. Viele der Inhalte übernehmen die Nazis direkt von den Pfadfindern: Spiel und Spaß in der Natur, Gemeinschaft und die Unabhängigkeit von den Eltern.
All dies wird missbraucht, um die faschistische Ideologie in den Köpfen der Jugendlichen zu verankern. Und dabei darf man auch nicht verschweigen, dass, vor allem, weil so vieles schon bekannt erscheint, viele Gruppen schmerz- und nahtlos in die HJ übergehen.
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Schon bevor ein offizielles Verbot des Katholischen Jungmännerverbands erlassen wird, zeigen sich in einem Brief an den Bundeswart der DPSG Sorgen, die für die Pfadfinder damals alltäglich werden:
Dem [Gruppen-] Führer wurde Haft angedroht, wenn er die Jungens unter 18 Jahren noch einmal zusammenrufe. Die Ausführer waren 3 geheime Staatspolizisten unter Führung des Jungbannführers der hiesigen Gegend. […] Auch unsere Jugendstunden werden in letzter Zeit beobachtet. Man droht den Jungens der HJ, wenn sie zu uns in die Bibelstunden kommen.
Bereits 1933 wird in Württemberg ein erstes Verbot ausgesprochen, unter das auch die DPSG fällt. Kurz darauf wird es allerdings wieder fallen gelassen, das Reichskonkordat kommt ihnen zur Hilfe. Dieses wurde am 20. Juli 1933 zwischen dem Deutschen Reich und der römisch-katholischen Kirche geschlossen, um das Verhältnis dieser beiden zu klären. Jahre später hält sich daran natürlich niemand mehr. Gerettet sind die Pfadfinder also nicht, aber vorerst gewährt es ihnen einen Aufschub.
Die Remszeitung schreibt dazu:
Das Reichsinnenministerium hat mit Rücksicht auf die vor dem Abschluß stehenden Konkordatsverhandlungen den Wunsch geäußert, daß auch das vom
württembergischen Innenministerium ausgesprochene Verbot einer Reihe von […] Verbänden und Organisationen wieder rückgängig gemacht wird.
Die darauffolgende Zeit ist trotzdem nicht einfach, selbst wenn es kein formales Verbot
gibt. Druck kommt von Seiten der Gesellschaft und Politik.Die Verbände werden
argwöhnisch beäugt, beobachtet und viele Jugendliche werden für ihre Mitgliedschaft bei
den Pfadfindern von anderen, besonders den HJ-lern, geärgert und bedroht.
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Endgültig kommt das Verbot für die konfessionelle Jugendarbeit und damit auch für die
DPSG 1938:
Durch Erlass des Reichsführers der SS und des Chefs der Deutschen Polizei im
Reichsministerium des Innern […] ist auf Grund des §1 der Verordnung des
Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat […] der katholische
Jungmännerverband Deutschlands einschließlich aller Neben- und
Untergliederungen und angeschlossenen Vereinigungen mit sofortiger Wirkung
aufgelöst worden. Unter Hinweis auf die Strafbestimmungen […] ist jede Tätigkeit, die den Versuch einer Fortführung dieser Organisationen oder eine Begründung mit gleichen oder ähnlichen Zielen darstellt, untersagt.“
– Zwischeneinspieler –
[Umbruch]
Und was wurde aus dem Versprechen, die Pflicht gegenüber Gott zu erfüllen, Mitmenschen jeder Zeit zu helfen? Viele Gruppen arbeiten illegal weiter, nun allerdings unter dem Namen „Gemeinschaft Sankt Georg“, Pfadfinder waren schließlich verboten. Manche wagten den Kontakt zu Gruppen im Ausland. Das war der Grundstein für spätere Verständigungen. Ein Pfadfinder berichtet:
Ende 1938 wagten wir in kleinen Kreisen wieder die ersten Zusammenkünfte. […] Wir hatten Verbindung zu anderen Gruppen, illegale Pfadfindergruppen. Diese Gruppen arbeiteten in der Regel bis zum Krieg, falls sie nicht vorher von der Gestapo völlig zerrieben wurden. […] Ein Informationszentrum unserer Gruppen war bis zum Krieg eine kleine Buchhandlung, deren Inhaber unauffällig Nachrichten an verfolgte Gruppen weitergab, Verfolgte, die sich nicht zu Hause aufhalten konnten irgendwo unterbrachte, Leuten, die aus dem KZ kamen, den Weg ins Ausland vorbereitete.
Die Arbeit im Untergrund ist nicht ungefährlich. Die Pfadfinder können jederzeit von der Gestapo
entdeckt werden. Dieser Gefahr sind sie sich allerdings durchaus bewusst. Trotzdem ist einigen
Mutigen ihr Versprechen wichtiger. Wie es vielen Pfadfindern ergangen ist, zeigt das Beispiel von
Willi Dempf. Er ist Mitglied im Stuttgarter Stamm St. Maria:
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Wir mussten […] ziemlich aufpassen, damit vor allem unseren inzwischen schon im Beruf stehenden [Gruppen-]Führern nichts angehängt werden konnte, wozu die Gestapo jederzeit bereit war. […] Nachdem […] die Kath. Jugend […] verboten worden war, konnten wir unsere Heim-Abende nicht mehr in unseren Jugendräumen in St. Maria abhalten, weil diese jederzeit kontrolliert werden konnten.
Wie sich zeigen sollte, ist die Angst nicht unberechtigt. Willi Dempf war Kassierer in seinen Gruppen. Einmal bekam er Besuch:
Gegen Mittag läutete es […] und 2 Gestapo-Beamte traten ein. […] Dann kamen sie zu meiner Eigenschaft als Kassierer des angeblich verbotenen Jungmännerverbands [und] […] führten […] eine Durchsuchung meiner Unterlagen durch.“
Bei Willi Dempf entdecken die Beamten zum Glück nichts und er kommt davon. Doch
andere Pfadfinder werden erwischt und bestraft.
– Zwischeneinspieler –
[Aufbruch]
Als 1945 der Krieg und damit das Nazi-Regime beendet sind, scheint es wieder Hoffnung zu geben und es wird versucht, an die Erfolge vor der NS-Zeit anzuknüpfen. Aber trotzdem hat der Stamm Esslingen nur 16 Mitglieder. Der Stamm wurde 1950 von Bruno Hailer, der versucht, in die Jugend der Gemeinde wieder Ordnung zu bringen, und von Werner Präg, der 1951 als Stammesfeldmeister den Stamm geleitet hat, gegründet.
Einer, der diesen Aufbruch selbst miterlebt hat, ist Dieter Führer. Nach dem Krieg tritt er in die DPSG ein und sieht sich mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert.
– Negative Beeinflussung durch die HJ (Zeitzeugeninterview) –
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Erst hatte die Hitlerjugend einen Großteil der Jugendarbeitsmethoden von den Pfadfindern kopiert, dann durften die Pfadfinder ihre Arbeit nicht mehr frei ausleben und schlussendlich wurden sie ganz verboten. Und jetzt werden die Pfadfinder mit der Hitlerjugend gleichgesetzt.
Viele Menschen denken so wie Dieters Mutter.
Marschieren. Kluft. Singen. Wandern. Natur: Das alles erinnert an die Hitlerjugend. Natürlich können die Pfadfinder nichts dafür, dass die Hitlerjugend sie kopiert hat und sie nur ihre Traditionen fortführen, aber aufgrund der Ähnlichkeit kommen trotzdem wenig neue Mitglieder. Das ist natürlich ein Problem, denn für eine Jugendorganisation braucht man Jugendliche. Schlussendlich kann Dieter seine Mutter überzeugen und er darf zu den Pfadfindern. Ihm bereiten die Pfadfinder viel Freude.
– Aufbau nicht mehr nötig (Zeitzeugeninterview) –
1951 dann auch das erste Stammeslager in Gundelsheim mit drei Gruppen, es findet die erste Versprechensfeier statt. Drei Jahre darauf ein erstes Landeslager: Kennenlernen, Freundschaften knüpfen. Die internationale Kooperation ist zuerst aber schwer, wie Dieter erzählt:
– Internationale Kooperation (Zeitzeugeninterview) –
Die Deutschen sind vorerst abgestempelt. Es dauert, bis die deutschen Pfadfinder international akzeptiert werden, doch langsam nähert man sich an und Freundschaften entstehen. 1955 folgt dann auch ein großes Highlight – das World Scout Jamboree. 35.000 Pfadfinder. 85 Nationen. Darunter auch die Esslinger.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob die Pfadfinder ihr Versprechen unter dem Nazi-Regime gehalten haben. Pauschal kann man darauf keine Antwort geben. Es gab viele, die widerstandslos mitgemacht haben, aber auch einige, die sich gegen die faschistische Staatsmacht gestellt haben, manche im Untergrund, wie zum Beispiel Willi Dempf aus dem Stamm St. Maria, und manche in der Öffentlichkeit.
– Zwischeneinspieler –
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Heute hat die DPSG über 95 000 Mitglieder, immer mehr Leute interessieren sich für die
Lebenseinstellung Pfadfinden. Jedes einzelne Mitglied setzt, heute, wie auch damals, ein Zeichen für Gerechtigkeit, gegen Rassismus und Diskriminierung, ein Zeichen für einen
verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt, ein Zeichen für Freiheit, ein Zeichen für Frieden. Und mit all diesen Werten ist es das Ziel eines jeden Pfadfinders, die Demokratie zu schützen, sodass Schreckensherrschaft und Krieg keine Chance haben, wieder zukehren.
So sagte schon der Gründer der Pfadfinder „BP“ in seinem Abschiedsbrief:
Das eigentliche Glück aber findet Ihr darin, dass Ihr andere glücklich macht.
Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als Ihr sie vorgefunden habt. […] Seid in diesem Sinn allzeit bereit, um glücklich zu leben und glücklich zu sterben.
– Haltet Euch immer an das Pfadfinderversprechen, auch dann, wenn Ihr keine
Knaben mehr seid.
– Musik –
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